Banner




Echtes Yoga in der digitalen Welt?


veröffentlicht am 25.05.2022

Jens Augspurger, M.A. M.Res. ist Doktorand der Religionswissenschaft an der School of Oriental and African Studies, London. Sein Forschungsprojekt beschäftigt sich mit spirituellen Bewegungen im Yoga und deren Bezüge zu Indien.


Die Pandemie hat vieles aus unserem Alltag in die digitale Welt verlagert. Auch Yogastudios haben ihre Kurse und Ausbildungen auf Onlineformate umgestellt. Online-Yoga ist zunächst einmal nichts Neues. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Wie (er)leben Menschen Religion oder Spiritualität im Yoga? Die gegenwärtige Pandemie hat hier Grundlegendes verändert: Den Raum der Praxis.

Der Raum des Zusammenkommens spielt bei der Yoga-Praxis eine wichtige Rolle, und zwar in vielerlei Hinsicht. Yogaräume können markiert sein durch die Anwesenheit von sakralen Elementen, beispielsweise Altäre mit Bildern der Gurus oder mit Statuetten von Gottheiten. Der Yogaraum ist ein Ort der Praxis und des Zusammenseins. Er ermöglicht den Yogis und Yoginis, sich auszutauschen und Gemeinschaft zu erfahren. Einige Praktizierende berichten, durch den Austausch entstehe eine spirituelle Energie, die sie Prana nennen. Prana bezeichnet im Yoga eine Art Lebensenergie, die u. a. über den Atem durch den Körper fließen und so das eigene Wohlbefinden beeinflussen können soll (vgl. Nagendra 2021). Neben der Energie gibt es auch ganz praktische Gründe, weshalb sich Yogis und Yoginis gemeinsam in Gruppen treffen. Denn, wenn Lehrende und Praktizierende im gleichen Raum zusammenkommen, lassen sich die Übungen der körperlichen Yogapraxis anschaulich erklären und nachvollziehen.

Raum kann auch abstrakt verstanden werden. So stellt beispielsweise das Land Indien für viele Praktizierende einen Bezugsraum zum Yoga dar. Oft wird es als Geburtsort des Yoga bezeichnet. Auf der Suche nach einem authentischen und ursprünglichen Yoga reisen daher viele Yogis und Yoginis nach Indien (vgl. Maddox 2015). Doch die These von der Ursprünglichkeit des indischen Yoga ist kontrovers. Denn, wie z. B. der Indologe Mark Singleton darlegt, ist das heute bekannte, auf Körperstellungen fokussierte Yoga vor allem das Resultat transkultureller Austauschprozesse, beispielsweise mit westlichen Elementen (vgl. Singleton 2010).

Der Popularität Indiens als Destination für Yogatourismus hat das nichts abgetan. Als wichtige Einnahmequelle wird Yogatourismus von staatlicher Seite gefördert. Yogaschulen versprechen in Indien das ursprüngliche und authentische Yoga zu vermitteln und die spirituelle Energie spürbar werden zu lassen (vgl. Telej, Gamble 2019). Woher der Wunsch nach Ursprünglichkeit und etwas Sinnstiftendem kommt, haben die beiden Religionswissenschaftler Jeremy Carrette und Richard King für ihre Forschung untersucht. In post-industriellen Gesellschaften, so ihre Erklärung, nähmen die Menschen eine gewisse Entzauberung des Alltags wahr. Das führe dann zum Wunsch, etwas zu finden, das den Durst nach Sinnhaftigkeit stillt (vgl. Carrette, King 2004). Für viele Praktizierenden erfüllt sich mit einer Indienreise ein lang gehegter Wunsch nach Sinnhaftigkeit, der verpackt ist in einem orientalisierenden Traum von Exotik.

Solche Reisen waren und sind seit Beginn der Covid-19-Pandemie nicht oder nur eingeschränkt möglich. Yogapraxis findet nun im heimischen Wohnzimmer statt. Statt langen Reisen zum vermeintlich ursprünglichen Yoga, sitzen und praktizieren die Yogis und Yoginis nun vor Bildschirmen. Was bedeutet das für die Erfahrung von Energie, Raum und Gemeinschaft?

Einige Anbieter von Online-Yoga vertreten die Ansicht, dass sich die Energie der spirituellen Gemeinschaft auch beim Online-Satsang (Sanskrit: Zusammentreffen) übertragen kann – eine Neuerung in der Yogawelt, die gleichzeitig auch den neuen Geschäftszweig legitimieren soll. Denn bisher knüpften Lehrende wie auch Praktizierende die Spürbarkeit und Erlebbarkeit von Energie an ein Zusammensein in einem bestimmten sakralen Raum: im Yogaraum, vor einem Altar oder im vermeintlichen Yogaland Indien.

Dass der digitale Yogaraum anders aufgebaut ist als der analoge Yogaraum, birgt neue Möglichkeiten der (Selbst-)Inszenierung. Über Bildschirm und Kamera miteinander verbunden, ist es den Teilnehmer*innen und Yogagurus nun möglich, Bildausschnitte kreativ zu bestimmen und zu gestalten. Außerdem sind aufgezeichnete Videos oft in professionellem Rahmen produziert und nachbearbeitet. Auf Hochglanz getrimmt, präsentieren sich Yoga-Influencer*innen wie Melissa Wood (@melissawoodhealth) oder Dylan Werner (@dylanwerneryoga) mühelos und schweißfrei in akrobatischen Positionen. Nebenbei vermarktet Wood passende Styles aus der eigenen Kollektion und Werner verkauft einen Ratgeber, der Atemtechniken zur Transformation des eigenen Wohlbefindens lehren soll (Werner 2021).

Auch die Online-Yogaangebote anderer Anbieter*innen verzeichnen Zuwachs. Die Follower*innenzahlen von Social-Media-Kanälen, die Yogapraktiken bewerben, steigen. Die kuratierten Beiträge treffen auf ein wachsendes Publikum. In der Stunde des Internet-Yoga wird neu definiert, was Yoga erleben bedeutet. Davon bleibt auch nicht unberührt, wie Zuschreibungen von Authentizität an (Bezugs-)Räume in Zukunft verhandelt und gestaltet werden.

Verwendete Literatur:

Carrette, Jeremy und Richard King. 2004. Selling Spirituality. The Silent Takeover of Religion. London: Routledge.

Maddox, Callie Batts. 2015. "Studying at the Source. Ashtanga Yoga Tourism and the Search for Authenticity in Mysore, India". Journal of Tourism and Cultural Change 13 (4): 330–43.

Nagendra, H. R. 2021. Prana: "The Functional Basis of Life". International Journal of Yoga Philosophy, Psychology & Parapsychology (9): 1–2.

Singleton, Mark. 2010. Yoga Body. The Origins of Modern Posture Practice. Oxford: Oxford University Press.

Telej, Eweline und Jordan Robert Gamble. 2019. "Yoga Wellness Tourism. A Study of Marketing Strategies in India". Journal of Consumer Marketing 36 (6): 794–805.

Werner, Dylan. 2021. The Illuminated Breath. Transform Your Physical, Cognitive & Emotional Well-Being by Harnessing the Science of Ancient Yoga Breath Practices. Las Vegas: Victory Belt Publishing.




E-Mail: Seitenbearbeiterin
Letzte Änderung: 25.05.2022