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Gott ist digital.
Konzeptionen des Internets als transzendente Instanz


veröffentlicht am 30.11.2021

Paul Glen Fischer, B.A ist derzeit mit der Erstellung seiner Masterarbeit am Heidelberger religionswissenschaftlichen Institut befasst, in welcher er sich mit der Frage auseinandersetzt, wie es gelingen kann, die sehr plurale Bewegung des Transhumanismus sprachlich und analytisch zu fassen.


Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen des Digitalen. Das Internet hat Karrieren begründet und zerstört, politische Umstürze mit herbeigeführt, und ist Umschlagplatz für die begehrteste Ware der Gegenwart — Informationen. Für einen Großteil der Menschheit ist die tägliche Nutzung des Internets so selbstverständlich geworden, dass ihr Verhältnis zu diesem unbewusster Abhängigkeit gleichkommt.

Die Omnipräsenz und nicht zu überschätzende Bedeutung der Internetnutzung hat dazu geführt, dass ihre Einordnung als religionsanaloge Praxis längst keine Randposition mehr ist. Das Internet stellt Kommunikationsmittel für religiöse Akteur*innen bereit. Es gerät aber auch als Ort der Kontingenzbewältigung und der Selbsttranzendierung des Menschen in den Blick. 2018 urteilte der Kommunikationswissenschaftler Christian Hoffmeister auf seinem Blog: "Die digitale Welt im Allgemeinen und das Internet im Speziellen stellen eine jenseitige Welt dar, die dem Menschen selbst unzugänglich bleibt" (Hoffmeister 2018). Er führte weiter aus:

    Die digitale Technologie liegt außerhalb des Wahrnehmungsbereiches eines Menschen, vergleichbar mit dem Jenseits in den traditionellen Religionen. Man kann nicht 'in das Internet gehen', und man erkennen [sic!] auch nicht, wie ein digitales Gerät funktioniert, wenn man es 'aufschraubt' und es sich ansieht. Beides liegt vollkommen außerhalb der menschlichen Sinneswahrnehmung und alles muss in Gedanken nachvollzogen werden.

    (Hoffmeister 2018)

Das Internet wird so in der Wahrnehmung mit dem Nimbus des Mysteriösen aufgeladen, ihm wächst die Assoziation einer selbstständig handelnden Instanz zu, die auf das Verhalten von Menschen reagiert: "Das Internet sieht alles. Dadurch wird ein kollektives Gewissen geschaffen, das über dem Einzelnen steht und die Macht hat, über den Menschen zu entscheiden. Das Internet wird so zu einem postmodernen Gott, der die menschlichen Geschicke lenkt und steuert" (Hoffmeister 2018).

Dass die exakte Funktionsweise des Mediums und die ethischen Implikationen ihres Verlusts an Privatsphäre den meisten Nutzer*innen nicht bewusst sind, bewog den belgischen Philosophen Mark Coeckelbergh zu schreiben, es gebe "unterschiedliche Arten von Verzauberung und Wiederverzauberung in der Technologie und aufgrund der Technologie. Unsere Nutzung von Informationstechnologien wie dem Internet und von androiden Robotern hat immer noch etwas Magisches" (Coeckelbergh 2018: 83). Die radikalste Konsequenz dieser Situation ziehen Coeckelbergh zufolge Persönlichkeiten wie der US-amerikanische Entwickler und Futurist Ray Kurzweil, nach dessen Auffassung am Ende der technologischen Evolution die "große Singularität" stehen soll — wenn die Menschheit ihr weiteres Schicksal vertrauensvoll in die Hände einer technischen Über-Intelligenz legt: "Kurzweil behauptet, dass wir als Folge der Beschleunigung der Informationstechnologie irgendwann […] den biologischen Zustand überschreiten und Cyborgs werden und / oder uns selbst hochladen und in einer virtuellen Welt ewig leben wer-den" (Coeckelbergh 2018: 84). Kurzweil ist damit als einer der maßgeblichen Vertreter des Transhumanismus porträtiert, dessen verbindendes Merkmal die Überwindung der biologischen Grenzen des Menschen ist — bis hin zu Unsterblichkeitsvisionen (vgl. Coeckelbergh 2018: 83f.).

Die Nutzung des Internets, besonders sozialer Netzwerke, präsentiert sich also in mehrerlei Hinsicht als relevantes Forschungsfeld: Das Internet scheint in der allgemeinen Wahrnehmung einen Habitus zu entwickeln, der Vorstellungen des Handelns Gottes in einer monotheistisch geprägten Gesellschaft entspricht. Gleichzeitig ist es Schauplatz der Selbsttranszendierung des Menschen, indem es Möglichkeiten für Nutzer*innen bereitstellt, die Grenzen der unmittelbar zugänglichen Welt zu überschreiten. Und schließlich dient es als Projektionsfläche für Vorstellungen einer besseren Version des Individuums oder des Menschen im Allgemeinen — es erscheint im extremsten Fall als Infrastruktur, die eines Tages die physische Unsterblichkeit ermöglichen soll.

Verwendete Literatur:

Mark Coeckelbergh, Transzendenzmaschinen: Der Transhumanismus und seine (technisch-)religiösen Quellen, in: Benedikt-Paul Göcke, Frank Meier-Hamidi, Hg., Designobjekt Mensch. Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand (Freiburg i. B.: Herder, 2018).

Christian Hoffmeister. 2018. Digitale Religion: https://www.digital-religion.de/post/internet-der-neue-gott (zuletzt abgerufen am 27.06.2021).



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Letzte Änderung: 10.12.2021