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Technisierte Ahnengedenkhallen und steinerne Familiengräber in Japan. Ästhetik, Materialitäten und Praktiken


veröffentlicht am 17.10.2022

Silke R.G. Hasper, M.A. ist Doktorandin am Institut für Religionswissenschaft und am Heidelberger Centrum für Transkulturelle Studien der Universität Heidelberg. In verschiedenen Projekten analysiert sie seit 2015 Wechselwirkungen zwischen sozialem Wandel und Transformationen im Umgang mit dem Tod in Japan.


"Das Fenster öffnet sich und biiim sind da mein Opa und sein ihai [Totentäfelchen] und dann schließt sich das Fenster schuuuuu. Das ist schon irgendwie lustig schuuu-schuuu […]. Ich weiß schon, was das für ein System ist, aber […] irgendwie ein magisches System. […] Es ist ein Grab, aber es ist ein modernes System", erinnert sich Aoyama Yuri an ihren ersten Besuch der Urne ihres Großvaters väterlicherseits in einer technisierten buddhistischen Ahnengedenkhalle. Yuri ist Ende zwanzig und arbeitet für ein IT-Unternehmen in der Metropolregion Tokio. Eine ganz andere Erfahrung ist für sie ein Besuch am Grab der Familie mütterlicherseits, das seit Generationen weitervererbt wird und in einem buddhistischen Parkfriedhof liegt. Die in die Grabbesuche involvierten Materialitäten und Handlungsspielräume weisen Unterschiede auf, die aus Yuris Sicht die Praxis am Grab verändern.

Mit dem Sterben, der Beisetzung sowie dem Ahnengedenken verbundene Rituale und Settings sind in Japan überwiegend buddhistisch gerahmt. Das ist rückführbar auf eine Formalisierung von Beziehungen zwischen Familien und buddhistischen Tempeln und damit verbundenen rituellen Transformationen in der Edo-Zeit (1603–1868). In diesem Kontext etablieren sich Familiengräber, die patrilinear weitervererbt werden und die Beziehung zu einem Familientempel materialisieren. Im 20. Jahrhundert führen insbesondere die zunehmende Urbanisierung, die steigende Mobilität sowie sich verändernde Familienstrukturen zu Kontaktabbrüchen zwischen Familien und Familientempeln (vgl. Inoue 2000; Rowe 2011).

Wenn aber der Kontakt zum Familientempel abgebrochen ist, der Ort vom Familientempel und Familiengrab unbekannt oder zu weit entfernt ist, wo lassen dann Angehörige ihr verstorbenes Familienmitglied bestatten? An wen wenden sich Menschen in Vorbereitung auf ihre eigene Beisetzung, wenn sie sich nicht in einem Familiengrab beisetzen lassen können oder wollen?

Yuris Großvater (1920-er bis 2010-er) entschied sich für einen Tempel mit technisiertem Beinhaus und Ahnengedenkhalle. Zu Lebzeiten hätte der Großvater aufgrund fehlender Berührungspunkte nicht viel Wert auf japanische Traditionen gelegt. Daher habe es gut zu ihm gepasst, nicht unbedingt ein traditionelles Grab zu wollen, so Yuri. Ihr Vater vermutet, für die Wahl des Großvaters seien weniger die involvierten Technologien ausschlaggebend gewesen als vielmehr die Annehmlichkeiten des Ortes, wie die Nähe zu einem zentralen Bahnhof und zum Wohnhaus der hinterbliebenen Ehefrau.

Aufgrund der Ästhetik, der Materialitäten und der involvierten Technologien beschreibt Yuri das Gefühl, ein Grab besucht zu haben, an der Urne ihres Großvaters als eher schwach ausgeprägt. Wenige Gehminuten von einer touristischen Attraktion entfernt, beginnen Grabbesuche beim Großvater für Yuri an der Rezeption eines modernen Gebäudes mit der Suche nach der richtigen Schlüsselkarte. Danach geht sie in das Untergeschoss des Gebäudes, an einem Altar mit Buddhastatue vorbei, in einen Raum mit drei geschlossenen Spitzbogenfenstern. Die Schlüsselkarte benutzt sie an einem Kartenlesegerät. Innerhalb einer Minute wird die Urne in den Raum hinter eines der Fenster befördert und das Fenster öffnet sich: Urne, Foto und ihai (Totentäfelchen mit Namensinschrift) sind angekommen. Durch eine Handbewegung schaltet Yuri die Leuchten rechts und links vor dem Fenster an. Dann stellt sie Bier oder Süßigkeiten – Lebensmittel, die ihr Großvater gerne mochte – vor die Urne und bleibt eine Weile vor der Urne stehen. Mit dem Drücken auf einen Knopf schließt sich das Fenster wieder und die Urne fährt zurück. Die Opfergaben an ihren Großvater nimmt Yuri mit nach Hause.

Yuris Gefühl, ein Grab besucht zu haben, sei bei dem Familiengrab mütterlicherseits stärker ausgeprägt. Die Reinigung des Grabbezirks, das Übergießen des Grabsteines mit Wasser sowie das Anzünden von Räucherstäbchen sind für Yuri und ihre Mutter Teil des Besuchs. Solche Praktiken evozieren in Yuri das Gefühl, sich Mühe gegeben und das Grab schön gemacht zu haben. Sie beschreibt es als "ich bin ans Grab gegangen". Ihr Großvater hat keinen Grabstein, der gereinigt werden könnte. Gleichzeitig beruhige es sie, zu wissen, dass der Zustand der Urne ihres Großvaters immer sehr schön sei. In der Interaktion mit Urnen und Grabsteinen materialisieren sich Vorstellungen über Gräber. Die Schilderungen unterschiedlicher Empfindungen zeigen Effekte solcher Materialisierungen.

Prozesse der Klinisierung und Professionalisierung im Umgang mit dem Tod führen zu einer erhöhten physischen Distanz zwischen Hinterbliebenen und Verstorbenen (Rowe 2011). Der Einsatz neuer Technologien kann dabei ein Katalysator dieser Trennung sein. Yuris Erfahrungen in der technisierten Ahnengedenkhalle zeigen, dass der Einsatz von Technologien auch nach einer Beisetzung die physische Distanz erhöhen kann, da die eingesetzten Technologien die Handlungsräume mitgestalten. Yuris Vater betont aber: "Es ist anders als ein normales Grab, aber ich bin davon überzeugt, dass das Gefühl, sich an Papa zu erinnern, das gleiche ist."

Anmerkungen zu Interviews:

Der vorliegende Blogbeitrag referenziert auf ein online durchgeführtes Interview mit Aoyama Yuri (Name geändert) sowie auf schriftliche Interviews mit ihrem Vater und ihrer Mutter (23.07.2022; 27.07.2022; 27.07.2022). Alle Interviews wurden von Silke R. G. Hasper auf Japanisch geführt und von ihr ins Deutsche übersetzt.

Verwendete Literatur:

Inoue Nobutaka. 2000. Contemporary Japanese Religion. About Japan Series 25. Tokyo: Foreign Press Center.

Rowe, Mark. 2011. Bonds of the Dead. Temples, Burial, and the Transformation of Contemporary Japanese Buddhism. Chicago (u. a.): The University of Chicago Press.



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Letzte Änderung: 17.10.2022