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Digitale Unsterblichkeit?


veröffentlicht am 30.03.2022

Dr. rer. nat. Reinhold Bien, M.A. ist Doktorand am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit der Rezeption buddhistischer Meditationspraktiken durch Psychotherapeut*innen in Deutschland.


“Everybody dies”
That’s what they say
And maybe in a couple hundred years
They’ll find another way
(Billie Eilish 2021)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebte in Großbritannien ein alter Mann namens Mycroft Ward. Als sein Arzt bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostizierte, beschloss er, nicht zu sterben. Er entwarf schriftlich ein grobes Abbild seiner Persönlichkeit und prägte es mithilfe von Hypnose einem jungen Mann auf, dem es psychisch schlecht ging und der sich für das Experiment bereitwillig zur Verfügung stellte. Der Versuch gelang; der alte Mann existierte nach dem Tod seines kranken Körpers in dem jungen Körper weiter.

Mycroft Ward stammt aus dem Debütroman The Raw Shark Texts (2013) des britischen Autors Steven Hall. Anders als bei Hall spielt in dem Film Transcendence aus dem Jahr 2014 (siehe etwa Schwickert 2014) der Körper als Träger der Persönlichkeit keine Rolle. In der nahen Zukunft wird das Bewusstsein des Wissenschaftlers Will Caster, der im Sterben liegt, von dessen Frau Evelyn anscheinend erfolgreich in einen Quantencomputer hochgeladen. Jedenfalls können beide kurz danach miteinander ein Gespräch führen.

Die beiden Beispiele sind Teil eines Diskurses, der nicht nur Religionswissenschaftler*innen spannende Einsichten liefert. Zunächst einmal gibt es über Unsterblichkeit völlig unterschiedliche religiöse Ansichten. So stellt der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann für das Judentum fest: "Das Alte Testament kennt keine Unsterblichkeit der Seele" (Assmann 2015: 139). Mit den Jahrhunderten sei ein Wandel erfolgt. Assmann zitiert zum Beleg aus dem zweiten Buch der Makkabäer: "[D]er König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Gesetze gestorben sind" (ebd.: 140). Offensichtlich wird angenommen, dass die personale Identität beim Übergang in ein ewiges Leben unverändert bleibt. Sollte irgendwann das Hochladen des menschlichen Bewusstseins in einen Rechner möglich sein, könnte jedoch die Frage nach der Identität schnell in den öffentlichen Fokus rücken. In diesem Zusammenhang unterscheidet der Philosoph Jens Kipper zwei Theorien über die Digitalisierung der geistigen Eigenschaften einer Person. Die Vertreter*innen der psychologischen Theorie behaupten laut Kipper: "Die psychologischen Eigenschaften vor der Prozedur und die unmittelbar danach sind einander sehr ähnlich und sie hängen kausal stark voneinander ab" (Kipper 2020: 83). Es werde daher angenommen, dass eine Person die Digitalisierung ihres Geistes überlebt. Dagegen sei nach der physischen Theorie die personale Identität auf das Weiterbestehen des biologischen Körpers angewiesen. Das "impliziert, dass wir Menschen keine digitale Unsterblichkeit erlangen können" (ebd.: 83). Ein Experiment wie in Transcendence würde gemäß dieser Theorie scheitern; Mycroft Wards Idee scheint eher mit der physischen Theorie übereinzustimmen.

Befürworter*innen der digitalen Unsterblichkeit haben eine Nähe zum Transhumanismus. Eine Definition dieser Denkrichtung gibt die Philosophin Janina Loh: "Der Transhumanismus will den Menschen weiterentwickeln, optimieren, modifizieren und verbessern. Seine Methode ist die technologische Transformation des Menschen […]" (Loh 2019: 97). Mit der Frage, ob der Transhumanismus etwa als religiöse Bewegung betrachtet werden kann, beschäftigt sich die Kulturanthropologin Jenny Huberman. Die Autorin sieht in dem Streben nach digitaler Unsterblichkeit eine Lebensstrategie. Sie stellt schließlich fest, dass von den transhumanistischen Akteur*innen eine permanente dokumentarische Wachsamkeit erwartet wird, um Daten für die eigene Gedächtnisdatei aufzuzeichnen. Dies werde vielleicht wichtiger als das Leben zu leben und zu genießen (vgl. Huberman 2018: 59-60). Der Religionswissenschaftler Oliver Krüger favorisiert eine andere Fragestellung. Für ihn "erweist es sich als fruchtbringend, die essentialistische Fragestellung Religion oder nicht? zu überwinden" (Krüger 2019: 408). Vielmehr gelte es zu ergründen, was Transhumanist*innen mit Religion machten. Beispielsweise interessiert sich Krüger für die kulturelle Bedingtheit der jeweiligen Rezeptionen und fragt nach übergreifenden Deutungsmustern (vgl. ebd.: 408).

Wie weit ist die technische Entwicklung wirklich? Die Sachbuchautoren Moritz Riesewieck und Hans Block berichten in einem ZEIT-Artikel, dass es heute schon möglich ist, Verstorbene wenigstens virtuell weiterleben zu lassen. Es wird unter anderem die koreanische Firma Vive Studios erwähnt, die es mithilfe von digitalen Aufzeichnungen der trauernden Familie ermöglicht, "ein Mädchen digital wiederauferstehen lassen, so wie es aussah, sprach und sich bewegte, bevor es im Alter von nur sieben Jahren einem Organversagen erlag […]" (Riesewieck, Block 2020). Der ZEIT-Artikel hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Beispielsweise verweist ein Beitrag auf das Recht einer Person "sterben zu dürfen, vergessen zu werden und kommenden Generationen die Bühne des Handelns zu überlassen […]" (ebd.).

Ist digitale Unsterblichkeit vielleicht doch nicht unbedingt erstrebenswert? In Halls Roman und in Transcendence wird eine düstere Welt geschildert. Mycroft Ward entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer monströsen Online-Datenbank, an die immer mehr Menschen angeschlossen werden. Der digitalisierte Will Caster kontrolliert am Ende alle weltweit vernetzten Computer.

Verwendete Literatur:

Assmann, Jan. 2015. "Martyrium, Gewalt, Unsterblichkeit. Die Ursprünge eines religiösen Syndroms." In Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt, hg. von Jan-Heiner Tück, 122-147. Freiburg: Herder.

Billie Eilish. 2021. "Everybody Dies." In Happier Than Ever, hg. von Billie Eilish O’Connell, LP Side 3. Interscope Records.

Hall, Steven. 2013. The Raw Shark Texts. Edinburgh & London: Canongate.

Huberman, Jenny. 2018. "Immortality transformed: mind cloning, transhumanism and the quest for digital immortality." Mortality 23/1:50–64.

Kipper, Jens. 2020. Künstliche Intelligenz – Fluch oder Segen? Heidelberg: Metzler.

Krüger, Oliver. 2019. Virtualität und Unsterblichkeit. Gott, Evolution und die Singularität im Post- und Transhumanismus. Freiburg: Rombach.

Loh, Janina. 2019. "Maschinenethik und Trans- und Posthumanismus". In Handbuch Maschinenethik, hg. von Oliver Bendel, 95-115. Wiesbaden: Springer.

Riesewieck, Moritz, Hans Block. 2020. "Künstliche Intelligenz. Wollen wir digital wiederauferstehen?" Zeit Online, 7. Oktober 2020. https://www.zeit.de/2020/42/kuenstliche-intelligenz-auferstehung-neuronale-netze (zuletzt abgerufen am 14.01.2021).

Schwickert, Martin. 2014. "‚Transcendence‘. Superhirn ohne Superbody." Zeit Online, 22. April 2014. https://www.zeit.de/kultur/film/2014-04/transcendence-film (zuletzt abgerufen am 14.01.2022).



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Letzte Änderung: 30.03.2022