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Die Hexen empören sich


veröffentlicht am 17.11.2021

Dr. rer. nat. Reinhold Bien, M.A ist Doktorand am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit der Rezeption buddhistischer Meditationspraktiken durch Psychotherapeut*innen in Deutschland.


Für die Kinos war 2020 ein katastrophales Jahr. Wegen der Pandemie mussten sie für längere Zeit schließen. Obwohl nach der Wiedereröffnung der Lichtspielhäuser Filmstarts nur zögernd anliefen, konnte rechtzeitig zu Halloween The Craft: Legacy (deutscher Titel: Blumhouse’s Der Hexenclub), der jüngste Film der Regisseurin Zoe Lister-Jones, gezeigt werden. Er ist ein Sequel des Films The Craft aus dem Jahr 1996. Erzählt wird die Geschichte von vier Schülerinnen einer Highschool, die einen Coven (oder Hexenzirkel) gründen und Hexerei betreiben, um zum Beispiel Levitation zu ermöglichen, die Zeit anzuhalten oder erfolgreich Liebeszauber zu praktizieren. In einer gemeinsamen Anstrengung gelingt es ihnen, die Gewalt eines extrem patriarchalisch orientierten Vaters, der Bücher wie The Hallowed Masculine verfasst und einige Filmkritiker*innen an den kanadischen Psychologen Jordan Peterson erinnert, durch ihre Hexenkunst zu brechen. Der Film lief lediglich bis zum 2. November. Dann wurde eine weitere Schließung der Kinos angeordnet.

In einem Interview mit der Zeitschrift Vogue erzählt Zoe Lister-Jones, welche Bedeutung der Film The Craft von 1996, der ebenfalls das Ringen von vier jungen Frauen um ihre Identität thematisiert, für sie als Schülerin hatte (Ruiz 2020). Sie gehörte an ihrer konservativen Schule zu den Außenseiterinnen, die durch ein als unangemessen empfundenes Outfit provozierten. Der Film stärkte ihr Selbstwertgefühl: "Plötzlich bedeutete es Macht, eine Verrückte zu sein" (ebd., übers. d. Verf.). Die Regisseurin, die ihren eigenen Film als Neuinterpretation des alten betrachtet, sagt, Hexerei biete jungen Frauen ein Gespür für die Verkörperung ihrer Kraft sowie Kontrolle in einer Zeit, die nach deren Empfinden außer Kontrolle geraten sei. Lister-Jones' Botschaft ist politisch; mit Blick auf Donald Trump meint sie: "Noch nie waren wir mit einer so unverschämt frauenfeindlichen Führung konfrontiert, und ich denke, das war auch ein großer Anreiz für mich, diese Geschichte zu schreiben" (ebd., übers. d. Verf.). The Craft: Legacy sei aus Empathie für junge Frauen entstanden, die während der Regierungszeit Trumps erwachsen wurden.

Denise Cush und andere Wissenschaftler*innen untersuchen seit den 1990er Jahren – beispielsweise in den USA und im Vereinigten Königreich – das Phänomen der teenage witchcraft. Dabei wird der Trend beobachtet, dass insbesondere junge Frauen sich Handlungen zuwenden, die sie als Hexerei bezeichnen und nach eigener Aussage als religiöse oder spirituelle Praxis verstehen, die vor allem zur Selbsttransformation dient (Cush 2007). Diese Entwicklung gehe einher mit einem Angebot an populären Büchern über Hexerei und einer positiven Darstellung von Hexen in den Massenmedien. Unter anderem wird die Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer (ab 1997; deutscher Titel: Buffy – Im Bann der Dämonen) als Beispiel genannt. Darin geht es nicht nur um Vampir*innen: Eine der Hauptfiguren ist Buffys Freundin Willow, die sich zunehmend der Hexerei widmet. Heutige Hexen werden jedoch nicht nur durch die Medien beeinflusst: Sie gestalten aktiv das mediale Angebot mit. In den Nullerjahren forschte Kerstin Radde-Antweiler am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg über die persönlichen Homepages von Hexen. Ihr Fokus lag auf dem Transfer von Ritualen in das Internet und den damit verbundenen Transformationsprozessen, wie sie zum Beispiel Änderungen der Ritualkonstruktion zugrunde liegen. Zurzeit bearbeitet Isis Mrugalla am Heidelberger Institut für Religionswissenschaft ein Promotionsprojekt über die Konstruktion von Magic Realities in Simulationsspielen (Hochschule für Gestaltung 2020). Auch wenn etwa das Internet eine immer größere Rolle spielt, ist nicht zu erwarten, dass heutige Hexen sich ganz den digitalen Medien zuwenden. Nach einer These des kanadischen Journalisten David Sax wird das Analoge nicht verschwinden, weil Menschen haptische Erfahrungen brauchen (Sax 2017). Zum Beispiel ist das Interesse der jungen Hexen aus The Craft: Legacy eher auf analoge Medien ausgerichtet. Sie arbeiten mit einem gedruckten Grimoire, d. h. mit einer Sammlung von Sprüchen, denen Zauberkraft zugeschrieben wird; ein altes Polaroid-Foto enthält einen wichtigen Hinweis.

Auch anderswo steht die Hexe für weibliche Selbstermächtigung. In einem ZEIT-Artikel beschäftigt sich die Journalistin Cécile Calla mit "Witch-Gruppen" in Frankreich, die wegen ihrer spektakulären Demonstrationen in Hexenkostümen ("Macron in den Kochtopf") seit 2017 stärker in den Fokus der Medien rücken. Solche Gruppen habe es bereits in den 1960er Jahren in den USA und in den 1970er Jahren in Frankreich gegeben. Erst in jüngster Zeit werde die Figur der Hexe verstärkt aufgegriffen. Zu dieser zweiten Welle passe der Essay Sorcières, la puissance invaincue des femmes (deutsch: Hexen, die unbesiegte Macht der Frauen) der französisch-schweizerischen Autorin Mona Chollet, die behaupte, Spuren des negativen Frauenbildes der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen fänden sich selbst in der modernen Gesellschaft (Calla 2018). Cécile Calla schreibt zu dieser These: "Daraus begründeten sich etwa die abwertende Haltung der Gesellschaft gegenüber bestimmten Frauentypen: der kinderlosen Frau, der älteren Frau und der Single-Frau, die auf Französisch […] Katzenfrau genannt wird" (ebd.). Die Katze als Attribut der Hexe solle die emotionalen Bedürfnisse der einsamen Frau auffangen. Schlimmer als die Wahrnehmung der Katzenfrau ist aber für Calla die Wahrnehmung der alten Frau: "Nach dem 50. Geburtstag sieht man sie kaum in Filmen oder Werbung, nie auf den Covern von Frauenmagazinen, und Statistiken zeigen, dass sie häufig allein wohnen" (ebd.). Letztlich ermutige Mona Chollet die Frauen dazu, über ihr Leben und ihren Körper frei zu bestimmen (ebd.).

Cécile Calla betrachtet die Bezeichnung "Hexe" inzwischen als Kompliment. Ich nehme an, dass Lily, Frankie, Tabby und Lourdes, die Protagonistinnen aus The Craft: Legacy, ihr uneingeschränkt zustimmen würden.

Verwendete Literatur:

Calla, Cécile. 2018. "Die Rückkehr der Hexen." Zeit Online, 3. Oktober 2018. https://www.zeit.de/kultur/2018-10/feminismus-hexen-bezeichnung-negativitaet-symbol-weibliche-selbstermaechtigung-10nach8 (zuletzt abgerufen am 25.08.2021).

Cush, Denise. 2007. "Consumer witchcraft: are teenage witches a creation of commercial interests?" Journal of Beliefs & Values 28/1:45–53.

Hochschule für Gestaltung. 2020. "Magic Realities - Über die alltägliche und außeralltägliche Produktion variabler Realitäten." Vortrag von Isis Mrugalla am 16. Januar 2020. https://www.hfg-karlsruhe.de/aktuelles/magic-realities (zuletzt abgerufen am 25.08.2021).

Ruiz, Michelle. 2020. "Director Zoe Lister-Jones on Reimagining The Craft and the Feminist Power of Witches." Vogue, 27. Oktober 2020. https://www.vogue.com/article/zoe-lister-jones-the-craft-interview (zuletzt abgerufen am 25.08.2021).

Sax, David. 2017. Die Rache des Analogen. Warum wir uns nach realen Dingen sehnen. Wien: Residenz Verlag.



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Letzte Änderung: 17.11.2021