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Kontemporäre touristische Praktiken


veröffentlicht am 04.10.2021

Laura Brandt, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionswissenschaft, Heidelberg. In ihrer Promotion befasst sie sich mit Religion und Tourismus in Japan.


Die Suche nach dem Außergewöhnlichen ist der rote Faden, der sich durch alle Lebensbereiche zieht. So beschreibt der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz in seiner 2017 erschienenen Gegenwartsdiagnose die neue Mittelschicht des 21. Jahrhunderts. In einer "Gesellschaft der Singularitäten" bilde sich Identität nicht mehr durch die Teilhabe an gemeinsamer Massenkultur, sondern durch den Konsum des Besonderen — oder den besonders individuellen Konsum des Massentauglichen. Betroffen sind hiervon nicht nur der morgendliche Gang zum Bäcker, die Abendunterhaltung mit Freund*innen oder die Einrichtung des eigenen Heims, sondern auch die Urlaubsreise:

    Reiseziele beispielsweise können sich nicht länger damit begnügen, einförmige Urlaubsziele des Massentourismus zu sein. Es ist vielmehr die Einzigartigkeit des Ortes, die besondere Stadt mit authentischer Atmosphäre, die exzeptionelle Landschaft, die besondere lokale Alltagskultur, denen nun das Interesse des touristischen Blicks gilt.

    (Reckwitz 2017: 7)

Der besondere Erfahrungscharakter, den Reckwitz dem Reisen zuschreibt, lässt sich vergleichen mit den besonderen Emotionen, von denen Akteur*innen immer wieder bei der Begegnung mit Religion berichten. Derart bedeutungsgeladenes Reisen kann sich aus Perspektive von Forschenden als Religionsanalogie verstehen lassen. Aufgrund struktureller und inhaltlicher Ähnlichkeiten bietet es einen Anschluss an religionswissenschaftliche Überlegungen.

Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg zeigt auf, dass es zu Überschneidungen zwischen Religion und Tourismus nicht erst seit dem 21. Jahrhundert kommt. Pilgerreisende des frühen Mittelalters gelten als die ersten Touristinnen - und noch heute nutzen religiöse Reisende und säkulare Urlauberinnen trotz unterschiedlicher Selbstverständnisse und Ziele die gleiche touristische Infrastruktur (Stausberg 2010: 51). Bei der Trennung in hedonistische Tourist*innen und spirituelle Pilgernde handelt es sich um konstruierte Kategorien, sogenannte Idealtypen (Stausberg 2010: 41). Diese finden sich in den Rhethoriken unterschiedlicher Akteur*innen, seie es bei Reisenden selbst, bei theologischen Expert*innen oder dem Personal von religiösen Stätten, das sich einem Strom an Besucherinnen und den daraus resultierenden Konsequenzen für Verhaltensregeln, Reinheit und Instandhaltung gegenübersieht.

Auch die Inszenierung der eigenen Reise ist kein neues Phänomen. So schreibt Stausberg über Materialitäten, die sich an touristischen Orten erwerben lassen:

    Ansichtskarten und Souvenirs sind augenfällige Gegenstände mit Erinnerungswert und Behelfsmittel zur Konstruktion von Erinnerung und Erzählungen, materiell verdichtete Indikatoren von Erfahrungen und Fragmente von (Auto-)Biographien [...]. Sie sind Identitätskonsumgüter: Dinge, die man kauft und verschenkt, um sich selbst und andere zu zeigen, wer man ist.

    (Stausberg 2010: 162)

Unterschiedliche Haltungen zu Herstellung und Vertrieb religiöser Souvenirs werden beobachtet – von der Verweigerung religiöser Institutionen, touristische Waren anzubieten, bis hin zur aktiven Vermarktung der eigenen Lokalität.

Zehn Jahre nach dem Erscheinen von Stausbergs Werk zu Religion und Tourismus lässt sich dem Kapitel zu Souvenirs und Andenken eine neue Komponente hinzufügen: Die digitale Reisekultur. Nicht nur Mobiltelefone haben sich in den letzten Jahren zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt, die Reisenden stets zur Hand ist, sondern auch soziale Netzwerke ermuntern Nutzer*innen, andere quasi live am eigenen Leben teilhaben zu lassen. Überlegungen zur digitalen Kultur auf Reisen ermöglichen einen Anschluss an Reckwitz' Thesen zur Singularisierung. So schreibt dieser:

    Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden.

    (Reckwitz 2017: 8)

Nicht nur wird Religion von Urlauber*innen in einen kulturtouristischen Markt einverleibt, sondern das Bewusstsein für die Möglichkeit der digitalen Selbstinszenierung verändert auch die Praktiken vor Ort.

Wie reagieren religiöse Akteur*innen und Expert*innen auf Reisende, die stets ihr Handy griffbereit haben, um instagramtaugliche Kulissen festzuhalten - und vielleicht keinen Unterschied zwischen Strand und religiöser Stätte wahrnehmen? Wie lässt das Sharing-Verhalten auf sozialen Netzwerken für Urlauber*innen die Grenzen zwischen Alltag und außergewöhnlicher Reise-Erfahrung verschwimmen? Und wie reagieren religiöse Akteur*innen auf die Selbstinszenierung mithilfe der von ihnen sakral bezeichneten Orte auf scheinbar profanen, populärkulturellen Plattformen?

Erste Fallstudien, die sich diesen Leitfragen annehmen, berichten von einer neuen Art Tourist*in, die*der Technik aktiv in Reiseerfahrungen einbindet:

    These techno-tourists [...] are on their own pilgrimages to engage with emotionally and spiritually satisfying activities that meet and exceed their expectations, first through lived activity and again afterwards when recounting their journey via travel blogs and social media.

    (Trew 2020: 128)

Im kambodschanischen Pnomh Sampeau erzeugt die Begegnung von digitalen Reisenden und Einheimischen, die Matthew J. Trew beschreibt, sehr gegensätzliche Reaktionen. Gegenwärtige touristische Praktiken stehen so in Zusammenhang mit Warenwerdung, Säkularisierung und Aushandlung von Deutungsmacht. Spannend bleibt auch, welche neuen Impulse das Feld des digitalen Tourismus durch die Erschließung neuer Möglichkeiten im Zuge der Covid-19-Pandemie erhalten hat.

Verwendete Literatur:

Reckwitz, Andreas. 2017. Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne.Berlin: Suhrkamp.

Stausberg, Michael. 2010. Religion und Moderner Tourismus. Berlin: Verlag der Weltreligionen.

Trew, Matthew J. 2020. "Buddhists, Bones, Bats: Thematic Tourism and the Symbolic Economy of Phnom Sampeau, Cambodia", in: Buddhist Tourism in Asia, herausgegeben von Courtney Bruntz und Brooke Schedneck, S. 125-143. Honolulu: University of Hawai'i Press.



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Letzte Änderung: 04.10.2021