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Mehr Sichtbarkeit durch Digitalisierung – Wie queere Muslim*innen in London digitale Medien nutzen


veröffentlicht am 23.11.2022

Autor: Benedikt Kastner, M.A.


Um ihre Präsenz in der muslimischen Zivilgesellschaft sichtbarer zu machen, nutzen queere Muslim*innen in London digitale Medien. Mit den von ihnen initiierten Projekten, für die sie digital werben, legen sie den Finger auf patriarchale Strukturen im Islam. Während sie in ihrer sozialen Realität etwa klaren Vorstellungen dazu ausgesetzt sind, was ein Mann, was eine Frau und warum Heterosexualität das Normale sei, wollen sie mit ihren Projekten und den digitalen Tools von heute ein diverses Bild des Islam zeichnen (vgl. Butler 1990). Eines ihrer Ziele: queeren Muslim*innen eine Plattform zu bieten. Dieser Beitrag stellt exemplarisch zwei Projekte in London vor, deren Verantwortliche es sich zur Aufgabe gemacht haben, für queere Muslim*innen einzustehen.

Die Inclusive Mosque Initiative (IMI), gegründet im Jahr 2012, begreift sich als eine intersektionale feministische Moschee „dedicated to creating inclusive, safer places for marginalised Muslims“ (Inclusive Mosque Initiative 2022a). Während die Eröffnung einer Moschee in der analogen Welt noch aussteht, ist die Website der IMI bereits Dreh- und Angelpunkt der Vermittlung einer Moschee, die sich primär an Muslim*innen richtet, die sich als queer bzw. als LGBT+, identifizieren (vgl. ebd.). Kurz zusammengefasst: LGBT+ ist eine Abkürzung, die sich in den letzten Jahren für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender sowie für Menschen weiterer geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung entwickelt hat.
Auf ihrer Website machen die Verantwortlichen von IMI, eine Gruppe aus Imam*innen und Freiwilligen, auf das Angebot und den Aufgabenbereich der Initiative aufmerksam. Im Vordergrund stehen dabei Austausch, Aufklärung und die Ausübung religiöser Praktiken. Je nach Format findet die jeweilige Veranstaltung online oder in Präsenz statt. In seinen Online-Workshops und -Vorträgen beschäftigt sich das IMI-Team mit Themen wie „Islam und Sexualität“, „Gender und Feminismus“ und „Homo- und Islamophobie“ (vgl. Çetin 2012). Weiterhin liefert die Website Zugang zu einer Diskussionsgruppe zum Koran sowie zu religiösen Feierlichkeiten wie dem Ramadan und dem wöchentlichen Freitagsgebet, hierbei ist in der IMI die im orthodoxen Islam übliche Geschlechtersegregation aufgehoben. In der Vergangenheit gehörte auch das Ausrichten von Hochzeitszeremonien, ungeachtet biologischer Geschlechter und der sexuellen Identitäten des Paares, zu den Aufgaben der Initiative (vgl. Inclusive Mosque Initiative 2022b). Um seine Visionen und Werte, die in der Narration eines diversen Islam münden, an Mitmenschen zu kommunizieren und sie zu bewerben, nutzt das Team verschiedene Social-Media-Accounts. Ziel der Beiträge ist es, einen flow von Informationen zu erzeugen, um IMI an Profil gewinnen zu lassen, sodass marginalisierte Muslim*innen von der Initiative erfahren und einen Ort der Zugehörigkeit und Akzeptanz finden. Der Ansporn von IMI: patriarchalen Systemen den Kampf anzusagen und sichere Orte für die muslimische LGBT+ Community und deren Praxis des Islam zu schaffen (vgl. ebd.).

Der Frage, inwieweit in muslimischen Gemeinden in Großbritannien etwa eine internalisierte Homophobie vorherrscht, ist das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Gallup 2009 in einer Studie nachgegangen. Die Studie legt dar, dass beispielsweise 52% der 500 befragten Muslim*innen der Meinung sind, dass Homosexualität nicht legal sein sollte; 47% vertraten die Überzeugung, dass homosexuelle Muslim*innen keine Lehrberufe ausüben dürften; und alle Studien-Teilnehmer*innen gaben an, dass Homosexualität moralisch nicht vertretbar sei. Als Quelle der Aussagen gaben viele den Koran sowie Allah, also eine transzendente Macht, an (vgl. Jaspal 2016; Butt 2009). Welche Auswirkungen Ausgrenzung und Diskriminierung auf homosexuelle Muslim*innen haben können, erläutert Rudi Jaspal, Professor für Psychologie und sexuelle Gesundheit an der De Montfort University in Leicester: Unsicherheit, wenig Selbstakzeptanz und eine geringe psychische Gesundheit deutet er als Folgeerscheinungen homophober Tendenzen in der muslimischen Zivilgesellschaft Großbritanniens (vgl. ebd.). Symptome, die IMI mit ihrem Angebot eindämmen will.
Aber wie sieht es mit Homophobie in muslimischen Gemeinden in Deutschland aus? Der Religions-Monitor von 2017, eine von der Bertelsmann Stiftung geförderte Befragung von 1.500 Muslim*innen, zeigt beispielsweise, dass 58% der sunnitischen Befragten für eine Öffnung der Ehe für alle sind. Bei den schiitischen und den alevitischen Befragten sind es 69% und 70% (vgl. Bertelsmann Stiftung 2022). Eine Differenzierung islamischer Traditionen findet in der Gallup Studie dagegen keine Beachtung. Einen Meilenstein für Akzeptanz und gegen Hass setzten in Berlin Verantwortliche der Ibn Rushd Goethe Moschee, die im Sommer 2022 als erste deutsche Moschee die Regenbogenfahne unter dem Motto „Liebe ist Halal“, was so viel heißt wie „Liebe ist rein“, hisste. Ein Symbolakt, da die Fahne international für Frieden, Akzeptanz und Diversität steht. Nationale Popularität erlangte diese Geste durch die breite Rezeption in Print- und Online-Medien sowie durch das Teilen in den sozialen Medien (vgl. Ibn Rushd Goethe Moschee 2022).

Entgegen der Ansicht vieler der Befragten in der Gallup Studie, dass Heterosexualität eine von Allah gegebene Norm sei, die im Koran verschriftlicht vorzufinden sei, bietet das Projekt Imaan, gegründet 1999 in London, Interessierten auf ihrer Website die Möglichkeit, Suren aus dem Koran zu lesen, in denen es um Liebe, Sexualität und Religion geht. Der theologische Exkurs, dargestellt als ein Q&A, klärt Lesende etwa darüber auf, dass der Begriff Homosexualität im Koran nicht auftauche und dass es weder Erläuterungen zu weiblichen homoerotischen Begegnungen noch zu Transgender gebe. Des Weiteren werde im Koran zwischen Liebe zwischen Männern und Sex zwischen Männern unterschieden (vgl. Imaan 2022). Neben der Koran-Exegese finden Interessierte auch Antworten auf Behauptungen wie „Homosexuality is a Western phenomena“ oder „Allah sent AIDS to punisch homosexuals“. Social-Media-Portale, Video-Aufnahmen und ein eigener Newsletter runden den digitalen Vermittlungsprozess in Sachen Islam und Diversität von Imaan ab. Von wem Imaan gegründet wurde oder wer die Antworten des Q&A verantwortet, ist auf der Website nicht benannt (vgl. ebd.).

Die Medienwissenschaftler Nick Couldry und Andreas Hepp begreifen die soziale Welt als das Produkt von Kommunikationsprozessen (vgl. Couldry, Hepp 2017: 18). Die beiden britischen Projekte wie auch weitere, bspw. London Queer Muslims, haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Kommunikationsprozess über Islam und LGBT+ durch ihre digitale Arbeit zu verändern und patriarchale Systeme ins Wanken zu bringen. So wie sich Gesellschaften mit der Zeit wandeln, transformieren sich auch Religionen, inklusive der Medien, die Akteur*innen für die religiöse Vermittlung nutzen. Im Fall von IMI und Imaan sind es digitale Medien, die die Verantwortlichen in einem flow aus Informationen dafür einsetzen, einer muslimischen LGBT+ Community Raum zu geben, sodass sich ihre soziale Realität, die im Vereinigten Königreich von Diskriminierung und Ablehnung geprägt ist, positiv verändert. Ein Teil dieser Realität sind transformierte religiöse Vorstellungen und Praktiken, die durch die Digitalisierung mehr Menschen einschließen als ausschließen.

Verwendete Literatur:

Bertelsmann Stiftung. 2022. Religionsmonitor: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/ueber-die-studie (zuletzt abgerufen am 05.11.2022).

Butler, Judith. 1990. Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London: Routledge.

Butt, Riazat. 2009. „Muslims in Britain Have Zero Tolerance of Homosexuality, Says Poll“. The Guardian, 07.05.2009 https://www.theguardian.com/uk/2009/may/07/muslims-britain-france-germany-homosexuality (zuletzt abgerufen am 05.11.2022).

Couldry, Nick, und Andreas Hepp. 2017. The Mediated Construction of Reality. Cambridge, Malden: Polity Press.

Jaspal, Rusi. 2016. „What It’s Like to be Gay and a Muslim“. The Conversation, 28.06.2016. https://theconversation.com/what-its-like-to-be-gay-and-a-muslim-61128 (zuletzt abgerufen am 02.09.2022).

Ibn Rushd Goethe Moschee GmbH. 2022. Liebe ist Halal: https://liebe-ist-halal.de/#start (zuletzt abgerufen am 05.11.2022).

Imaan. 2022. Website: https://imaanlondon.wordpress.com (zuletzt abgerufen am 02.09.2022).

Inclusive Mosque Initiative. 2022a. About: https://inclusivemosque.org/about/ (zuletzt abgerufen am 02.09.2022).

Inclusive Mosque Initiative. 2022b. Be Part of the Team: https://inclusivemosque.org/get-involved/work-for-us/ (zuletzt abgerufen am 02.09.2022).

London Queer Muslims. 2022. Website: https://londonqueermuslims.com (zuletzt abgerufen am 02.09.2022).

Zülfukar, Çetin. 2012. Homophobie und Islamophobie. Intersekationale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin. Bielefeld: Transcript.




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Letzte Änderung: 23.11.2022